erneuerung der freiheit: 

Zur Geschichte von Mont Pèlerin

ævum: Was ist die Mont Pèlerin Society und was war das Walter Lippmann Kolloquium? 

Stefan Kolev: Das Walter Lippmann Kolloquium im Jahr 1938 wie auch das Vorgängertreffen der Mont-Pèlerin-Society (MPS) im Jahr 1947 waren kritische Auseinandersetzungen mit dem kompletten Scheitern des Liberalismus, wie man ihn in den 30er Jahren sah. In beiden Fällen kamen Menschen mit viel Zweifel zusammen, die selbstkritisch schauen wollten, ob der Liberalismus noch eine Zukunft hat. Und die, falls er eine Zukunft hat, davon überzeugt waren, dass eine Übersetzung des Liberalismus in die jeweils aktuelle Zeit notwendig ist.

Beide Male trafen sich etwa 40 Protagonisten. Das waren wohl 50 Prozent aller Intellektuellen, die zu der Zeit noch gesagt hätten, dass sie sich für so Etwas wie Liberalismus hergeben würden. Beim Kolloquium waren es viele Franzosen, die man heute nicht mehr kennt, auch ein paar Industrielle. Das erste Treffen der MPS war bunt, was die Europäer angeht, auch ein paar Amerikaner. Aber einige bekannte Namen findet man auf beiden Teilnehmerlisten: Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises oder Wilhelm Röpke etwa.

Interview mit Stefan Kolev

10.12.2025

Liberale waren damals eine verschwindende Minderheit und von dieser Minderheit war ein großer Teil an beiden Orten versammelt.

Im Vergleich zu damals geht es uns heute verdammt gut. Allein schon das Ökosystem Prometheus enthält so viele junge Leute. Damals waren das dagegen alles im Schnitt, für die damalige Lebenserwartung, ziemlich alte Menschen. Beim Kolloquium und bei der MPS waren vor allem diejenigen anwesend, die um 1900 geboren wurden, die die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erlebt haben und die sich jetzt gefragt haben: Hat der Liberalismus nach 1914 überhaupt einen Sinn? Im Vergleich dazu geht es uns heute, bei aller Zertrümmerung liberaler Institutionen, besser – auch ist die internationale Gemeinschaft an Liberalen tausendmal ergiebiger als damals.

ævum: Wie kam es, dass es diesen Impuls zum Neuanfang gab?

Stefan Kolev: Beim Walter Lippmann Kolloquium ist Folgendes interessant: Walter Lippmann war eine schillernde Persönlichkeit und er hatte ein beachtliches Buch veröffentlicht. Fürs Verständnis sollte man wissen: Lippmann war damals ein wenig wie Cass Sunstein heute, der plötzlich von einem Linken zum Liberalen wird und die Hayekianer als seine Freunde erkennt. So ähnlich war es auch mit Lippmann. In den frühen 30 Jahren nach der Weltwirtschaftskrise ist er eigentlich als einflussreiches Keynes-Sprachrohr in den USA bekannt. Und plötzlich schreibt er dieses Buch, in dem er zwar Keynes lobt, weil dieser Menschen Hoffnung ermöglicht, aber dann auch die Österreicher mit ihren Unmöglichkeitsbeweisen des Sozialismus. Da fragte endlich jemand: Wie könnte eine liberale Ordnung konkret aussehen, auch wenn man über die ideologischen Gräben hinweg nach Antworten sucht?

Daraus entstand dann auch der MPS-Geist: Es reicht nicht zu sagen, Sozialismus und Interventionismus funktionieren nicht. Stattdessen müssen wir unseren Liberalismus durchbuchstabieren, um ein positives Programm zu entwerfen. So ist die frühe MPS geprägt von dem Versuch, eine Ordnung zu entwerfen, deren Rahmen und Spielregeln ein Laissez-Faire innerhalb des Rahmens ermöglicht. Am Anfang stand dabei eine wichtige Debatte, die uns auch heute umzutreiben hat. Popper verstand die MPS als eine sehr breite, antitotalitäre Gesellschaft. Hayek meinte: Nein, es wird eine liberale Gesellschaft, das antiautoritäre Big Tent funktioniert hier nicht. Deswegen hat Popper nie eine wichtige Rolle gespielt, hat sich sehr früh zurückgezogen. Das ist für uns Liberale auch heute eine wichtige Frage: Sollten wir uns, als Zentristen, dem Antitotalitarismus verschreiben oder schaffen wir enge liberale Kontexte, die andere Bewohner der Mitte außenvorlassen.

Zurück zur MPS: Um diese Zeit besteht eine unglaubliche Parallelität zwischen dem, was man in Chicago sagt, zwischen den Freiburgern, zwischen Hayek und auch zwischen verschiedenen Inselchen des neoliberalen Archipels, die es woanders gibt. Luigi Enaudi in Italien, Jacques Rueff in Frankreich. Die sagen alle ungefähr das Gleiche: Es braucht eine geordnete Freiheit. Die gesamte Geschichte der politischen Ökonomie steht für ein ständiges Nachdenken über Freiheit und Ordnung. Freiheit ist nur erklärbar und kommunizierbar, wenn sie mit einem Ordnungsversprechen daherkommt.

ævum: Welche Rolle spielen die Ökonomen in der MPS? Wer hatte da das Sagen?

Stefan Kolev: Die MPS war immer schon von Ökonomen geprägt, auch wenn Hayek diese Dominanz nie recht war. Aber mit der Zeit hat sich verändert, wofür sich die Ökonomen interessierten. Die ersten 15 Jahre waren zwar Ökonomen in der Mehrzahl, aber es sind alles Ordnungsökonomen, wie ich es beschrieben hatte. Also: Hayek, Mises, Röpke oder Frank Knight. Danach aber, so ab den 60er-Jahren, übernimmt die Friedman-Generation. Diese Generation, mit George Stigler und den jüngeren Ökonomen, verengen die Debatte auf das, was man bis heute unter VWL versteht. Und damit „entgeistigte“ sich die Gesellschaft immer mehr. Von dieser Generation ist Friedman sogar noch am breitesten, weil er die frühen Meetings noch erlebt hat und deswegen immer Regeln und Ordnungen mitbedenkt. 1947 war seine erste Auslandsreise, das war alles für ihn prägend bis zum Schluss. Aber in der MPS allgemein gab es eine Amerikanisierung und Ökonomisierung, im modernen Sinne der US-geprägten VWL. Während die Alten, bis in die frühen 60er Jahre, versucht haben, auch bei ökonomischen Fragen ständig das Gesellschaftliche, das Politische, das Kulturelle, das Historische mitzudenken.

ævum: Wie haben sich die ideologischen Gräben innerhalb der MPS dann weiterentwickelt?

Stefan Kolev: Diese Frage war nie trivial. Die Spannung lief zwischen Neoliberalen und denen, die von den Neoliberalen als Paläo-Liberale genannt werden. Der Konsens beim Kolloquium war noch: Wir müssen den Liberalismus wirklich weiterdenken, nur aus dem 19. Jahrhundert kopieren funktioniert nicht. Dieses Erneuerungsbedürftigkeit des Liberalismus wurde zunehmend kontrovers diskutiert. Mit der Hunold-Affäre in den frühen 60er sind die Neoliberalen, also Röpke, Rüstow und ein paar andere, aus unterschiedlichen Gründen ausgetreten, unter anderem wegen der Affäre. Geblieben ist Hayek, der sich aber von der Präsidentschaft zurückzieht. Und es bleiben: Friedman, Fritz Machlup und Stigler. Man gewöhnt sich diese, meines Erachtens problematische, Vokabel „classical liberalism“ an und damit eine zunehmend „ökonomistische“ Version eines nicht allzu komplexen Liberalismus.

ævum: War Mont Pèlerin eine Erfolgsgeschichte?

Stefan Kolev: Ob die Mont Pèlerin Society ein Erfolg war und ist, darüber kann man streiten. Ein großer Erfolg war sicher, dass Hayek und die Friedman-Stigler-Generation politisch Einfluss nehmen konnten. Als in den 70ern das keynesianische Paradigma nicht mehr zog, da hatten sie ein Angebot: ein ausdifferenziertes Programm für die Wirtschaftspolitik und in Teilen auch für gesellschaftliche Fragen. Damit konnten sie Reagan und Thatcher und den Menschen, die endlich wieder aus dem Krisenmodus raus wollten, etwas anbieten. Das hängt sicher mit den Meetings der MPS und den Debatten dort zusammen. Aber nach dieser Generation hat man den Nachwuchs und neue Ideen ein ganzes Stück weit aus dem Blick verloren.

ævum: Könnte etwas wie die MPS heute wieder funktionieren? Was bräuchte es, um dieses Momentum wieder zu erzeugen?

Stefan Kolev: Ich glaube, ein solches MPS-Momentum hätte zwei Voraussetzungen. Einerseits: die Einsicht, dass wir offensichtlich etwas falsch gemacht in den letzten Jahren. Und andererseits: wieder ein positives Programm, das sich auf unsere Zeit bezieht. Dabei müssen wir radikal in der Sache, aber empathisch in der Sprache sein. Wer könnte es machen? Die MPS hat leider die Nachwuchspflege vernachlässigt, da fehlt ein wenig der Aufbruch, die Energie. Auch Students for Liberty bietet nicht mehr den Impuls. Aber deren ersten Tagungen hatten viel Energie, ob in Prag oder in Berlin, da denke ich wahnsinnig gerne dran zurück. Kombiniert man diese Energie mit der konzentrierten Arbeit an selbstkritischer Analyse und positiven Ideen, dann könnte das klappen.

Viel mehr braucht es auch gar nicht, denn wir haben eine gewisse historisierende Neigung, die ganzen alten Treffen und ihre Protagonisten zu verehren. Nach dem ersten MPS-Treffen wusste man nicht, ob das Ganze auf Dauer erhalten bleibt. Es war auch Zufall dabei, dass sich Gelder gefunden haben, dass Leute die einzelnen Treffen organisiert haben. Wir dagegen können von diesen Vorbildern lernen, auch um zu vermeiden, dass neue Institutionen sklerotisch werden.

Das Walter Lippmann Kolloquium hat man 1938 organisiert, da war Hitler schon da. Das war also spät. Hätte man es 1928 veranstaltet, hätte das viel ergiebiger sein können. Es wäre falsch zu sagen, wir haben heute wieder Verhältnisse wie 1938. Aber wie 1928 vielleicht schon. Mit der zweiten Amtszeit von Donald Trump sind wir schon spät dran. Denn alles, was wir an Fragilität erleben, erleben wir schon ohne makroökonomischen Schock. Eine große makroökonomische Krise ist uns bisher erspart geblieben und wir täten gut daran, in der knappen Zeit, die uns bis zu deren Ausbruch verbleibt, an der Erneuerung unseres Liberalismus und der Mitte intensivst zu arbeiten.

Das Interview führte Sven Gerst, editiert von Marius Drozdzewski.

Stefan Kolev leitet das Ludwig-Erhard-Forum für Wirtschaft und Gesellschaft in Berlin und ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Hochschule Zwickau.

Er forscht zur Geschichte des liberalen ökonomischen Denkens und beschäftigt sich schon lange mit der Mont Pèlerin Society, seit 2013 auch als Mitglied. 2022 war er Vorsitzender des Programmkomitees beim 75-jährigen Jubiläum der Mont Pèlerin Society in Oslo.