Deutschland braucht seinen Mont-Pèlerin-Moment
Es ist inzwischen eine traurige Tatsache, dass kein Text über den zeitgenössischen Liberalismus ohne die obligatorische – und irgendwie mitleiderregende – Krisendiagnose auskommt. Aber keine Sorge, ich halte mich kurz. Denn wir wissen doch alle, wo die Probleme liegen, und haben sie in allen nur denkbaren Formaten schon tausendfach durchdekliniert: Das Aufkeimen des Populismus als dezidiert illiberaler weltanschaulicher Antagonist, die Aushöhlung der liberalen Demokratie von innen, die Rückkehr von Geopolitik und Nullsummenspielen in den internationalen Beziehungen und das Entgleiten der eigenen Ordnungsvorstellung von der dynamischen offenen Gesellschaft hin zur bürokratisch-statischen institutionellen Sklerose, die die westliche Welt heute so lähmt. All das hat den Liberalismus als politisches Projekt an den Rand des Diskurses gedrängt.
1834 Worte
Sven Gerst
31.10.2025
Normalerweise würde man von einer derart durchintellektualisierten Denktradition wie dem Liberalismus erwarten, dass sie auf diese Krise eine Vielzahl kluger und durchdachter Antworten parat hat. Schließlich gibt man sich nur zu gern als Erbe der aufklärerischen Avantgarde. Umso erstaunlicher ist es, dass man in liberalen Zirkeln neben dem obligatorischen Hadern mit dem Zeitgeist und viel Schulterzucken vor allem inhaltlicher Leere begegnet. Unsere Credos sind zu reinen Durchhalteparolen verkommen. Einst Pioniere ihrer Zeit, sind Liberale heute zu den neuen Konservativen mit ihren eigenen altbekannten und altbackenen Mustern geworden. Es scheint fast, als wäre der Liberalismus paradoxerweise aus seiner eigenen Zeit gefallen. So liegt der zynische Schluss nahe: Vielleicht ist „Das Ende der Geschichte“ (um auch hier noch einmal ins Phrasenschwein für die obligatorische Fukuyama-Referenz einzuzahlen) gar nicht der Triumph der liberalen Demokratie, sondern – in den Worten Trotskys – die „dustbin of history“ für die Idee(n) der Freiheit.
Und genau das sollte Liberale umtreiben. Vielleicht sind es tatsächlich unsere Ideen, die nicht mehr zeitgemäß sind. Denn let’s face it: Unsere Parteien verlieren trotz der umfangreichsten Wahlprogramme Wahlen am laufenden Band, intellektuelle Debatten ziehen an uns vorbei, Bücher über Liberalismus blicken lieber zurück als nach vorn, unsere Podien erreichen kein Publikum mehr und Vordenker haben wir sowieso keine mehr. Selbst unsere Kritiker, wie Amlinger und Nachtwey, beschäftigen sich mittlerweile nicht mehr mit dem bösen liberalen Individualismus; sie sind längst weitergezogen—zu den New Kids on the Block: den selbsternannten Post-Liberalen. Und diese Begrifflichkeit allein sagt schon alles: Post-Liberalismus. Der Liberalismus wurde einfach mal so nebenbei… überwunden – die liberale Seifenblase scheint geplatzt.
Jetzt können wir entweder die Köpfe hängen lassen – oder uns wieder aufraffen. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass Liberale in einer existenziellen Krise stecken. Natürlich lassen sich heutige Bedingungen nicht eins zu eins mit früheren vergleichen. Nie zuvor konnte sich der Liberalismus so sehr auf den Errungenschaften seiner eigenen Geschichte ausruhen wie heute. Doch nichtsdestotrotz lohnt sich ein Blick zurück. Nicht aus Nostalgie (das steht uns sowieso nicht gut zu Gesicht), sondern um einen alten und zugleich neuen Geist zu beschwören: den Geist von Mont Pèlerin.
Denn als sich im April 1947 die letzten verbliebenen Liberalen der Nachkriegszeit am Fuß der Schweizer Alpen zur Gründung der Mont Pèlerin Society versammelten, standen sie vor einer ähnlichen Herausforderung: Auch damals ging es um nichts Geringeres als die geistige Wiederbelebung und ideelle Rekonstruktion der freiheitlichen Ordnung. Die Rahmenbedingungen waren jedoch ungleich dramatischer: Der Faschismus hatte Europa in Trümmern hinterlassen, und in vielen Ländern wurden Lebensmittel noch immer rationiert. Wer die historische Parallele zieht, mag denken: So schlimm steht es heute zum Glück (noch) nicht um die Welt. Doch darin liegt kein Trost. Denn der eigentliche Mont-Pèlerin-Moment begann schon Jahre zuvor und entfaltete seine Wirkung erst, als das Schlimmste bereits überstanden war. Und genau das sollte uns heute mahnen: Wir sollten nicht erst handeln, wenn es bereits zu spät ist.
Die ideengeschichtliche Spur des Geistes von Mont Pèlerin führt zurück ins Paris des Jahres 1938, also ein ganzes Jahrzehnt zuvor. Dort fand mit dem Colloque Walter Lippmann der erste ernsthafte Versuch statt, den Liberalismus aus der eigenen Orientierungslosigkeit herauszuführen. Inspiriert von Lippmanns Werk The Good Society versammelten sich Denker wie Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises, Michael Polanyi, Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke und Raymond Aron, um den Ideen der Freiheit einen neuen theoretischen Rahmen zu geben.
Pèlerin Palace, by Vadimdk, CC BY-SA 4.0, edited in bw
Was zunächst wie ein gemeinschaftlich konstruktives Projekt klingt, war in Wirklichkeit ein durchaus hartes Ringen um intellektuelle Vorherrschaft und Deutungshoheit. Was sollte man auch anderes erwarten von einem Raum voller Individualisten? Während etwa die deutschen Ordoliberalen für eine grundlegende Erneuerung der liberalen Idee und eine klare Abkehr vom Laissez-faire der Vergangenheit plädierten, wollten Hayek und Mises dem klassischen Liberalismus nicht gänzlich den Rücken kehren. Diese Spannungen führten zu teils hitzigen Auseinandersetzungen und mitunter bemerkenswert sarkastischen Bemerkungen. Vielleicht erklärt genau das, warum aus dem Pariser Kolloquium nie eine nachhaltige Struktur hervorging.
Zwar konnte man sich während des Treffens auf bestimmte, wenn auch recht grobe, Leitlinien eines Neo-Liberalismus einigen und im Nachgang mit dem “Centre International pour la Rénovation du Libéralisme” auch eine mögliche Struktur schaffen, um den Dialog fortzuführen. Doch sowohl der Ausbruch des Krieges als auch die fehlende Selbstverpflichtung der Teilnehmer würgten diese Initiativen ab. Lippmann selbst nahm an keinem weiteren Treffen teil, auch nicht an der späteren Mont-Pèlerin-Gesellschaft. Was blieb, waren vor allem die Animositäten. So wurde das Kolloquium letztlich eher zum Prolog des liberalen Wiederbelebungprojekt als zu seinem eigentlichen Aufbruch.
An genau einem solchen Aufbruch arbeitete Friedrich August von Hayek. Denn er hatte – wie übrigens auch Röpke – die Idee einer dauerhaften philosophischen Arbeitsgemeinschaft noch nicht aufgegeben. Beunruhigt von den Entwicklungen im Nachkriegseuropa schlug Hayek 1944 in einer Cambridge-Vorlesung die Gründung einer liberalen Gesellschaft von Vordenkern vor. Letztlich folgten 39 Akademiker, Schriftsteller, Think-Tanker und Intellektuelle seinem Ruf an den Genfer See. Aus Hayeks Impuls entstand so eine dauerhafte Institution. Und diese Struktur gab den Liberalen letztlich das Rüstzeug und die ideelle Selbstvergewisserung, mit der sie über Jahrzehnte hinweg weit mehr Wirkkraft entfalteten, als sich damals irgendjemand hätte vorstellen können.
Warum ich das alles erzähle? Weil es auch in Deutschland heute wieder einen Mont-Pèlerin-Moment braucht. Und obwohl ich an dieser Stelle unglaublich gerne noch mehr über die Einzelheiten des ersten Treffens der Mont-Pèlerin-Gesellschaft eingehen würde, verweise ich hierfür auf die exzellenten Werke von Bruce Caldwell und Angus Burgin. Ich möchte mich hier stattdessen auf die Lehren konzentrieren, die wir aus dieser Episode der liberalen Ideengeschichte ziehen können.
Erstens: Es gilt auch jetzt, die letzten verbliebenen und wahrscheinlich ähnlich verzweifelten Liberalen in Deutschland wieder in einen Raum zu bringen. Was Rougier und Hayek ein ganzes Jahrzehnt gekostet hat, muss uns in wenige Monaten gelingen. Die Zeit drängt. Doch das erfordert einige unbequeme Fragen. Zum Beispiel: Wen würde man überhaupt zu einem solchen Treffen einladen? Genau vor dieser Schwierigkeit stand auch Hayek, der von Mises regelmäßig bissige Briefe zu seinen Vorschlägen erhielt. Diese Konflikte wird man auch heute haben. Schon eine erste Namensliste, die ich einmal für mich skizziert habe (und auf Nachfrage gerne teile), machte deutlich, dass das nicht ohne Reibung und Majestätsbeleidigungen ablaufen wird. Aber da müssen wir durch. Wir dürfen keinen Angst vor Dissens haben. Viel entscheidender ist ohnehin die Frage, ob wir überhaupt noch Denker vom Kaliber jener Zeit haben, die ein solches Projekt tragen könnten. Doch auch hier sollte man nicht in romantisierte Ehrfurcht verfallen: Hayek selbst war im Frühjahr 1947 gerade einmal 47 Jahre alt und noch weit entfernt vom Nobelpreis. Man sollte den Glanz der Geschichte nicht mit der Realität ihres Anfangs verwechseln.
Zweitens: Ohne langfristige Struktur und verlässliche Geldgeber wird ein solches Projekt nicht abheben können. Hinter dem funkelnden Prachtfassade des intellektuellen Diskurses steckt die nüchterne Realität der Logistik: Wer organisiert und (noch viel wichtiger) wer zahlt? Wenn wir etwas von den großen Architekten und Brückenbauer des Nachkriegsliberalismus lernen können, dann, dass sich auch Intellektuelle nicht zu schade sein dürfen, selbst organisatorische Verantwortung zu übernehmen. Hayek verschickte selbst zahllose Briefe, warb um Unterstützung und fand schließlich mit dem Schweizer Bankier Albert Hunold und dem William Volker Fund die notwendigen Ressourcen, um Ort, Unterkunft und Reisekosten der Teilnehmer zu decken. Auch heute braucht es wieder solche Vordenker und Vormacher, die die Rolle übernehmen, den liberalen Milieus in Deutschland klarzumachen, dass intellektuelle Erneuerung notwendig und vor allem förderungswürdig ist.
Drittens: Ein Diskurs über die Zukunft der Freiheit muss heute mit derselben Schonungslosigkeit geführt werden wie damals. Dabei sollte die Fähigkeit zur inneren Reform nie als Verrat an der eigenen Tradition verstanden werden. Der Liberalismus muss sich wieder als lebendiges, offenes Projekt begreifen, das seine Krisen nicht reflexartig in äußeren Gegnern und Umständen sucht. Die eigentliche Schwäche liegt in seiner sich selbst auferlegten Trägheit, sich auf neue gesellschaftliche Realitäten einzustellen. Wenn Freiheit Bestand haben soll, muss auch ihr Begriff spirituell erneuert werden. Das setzt voraus, dass philosophische Grundsatzfragen nicht länger als intellektuelle Spielerei gelten. Sie sind die Triebfedern jeder politischen Erneuerung – und müssen auch wieder diesen Stellenwert einnehmen. Diese Art von ontologischer Selbstvergewisserung ist aktuell wichtiger als tagespolitische Nützlichkeit oder außenwirksame Effekthascherei. Ein zeitgemäßer Liberalismus kann sich nicht länger auf Zitatkacheln seiner Säulenheiligen ausruhen. Er braucht sein eigenes neues Vokabular, seine eigenen neue Denker, seine eigene neue Sprache und seine eigene neue Ästhetik.
Viertens: Für all diese Debatten und Diskurse braucht es eine Infrastruktur. Es braucht Orte und Rückzugsräume, wo produktiver Streit möglich ist, wo experimentiert werden kann und wo nicht nur neue Ideen, sondern auch neue Denker reifen können. Genau an solchen Orten mangelt es heute in Deutschland. Mit der Schließung der Theodor-Heuss-Akademie wird dem Liberalismus nun auch sein letzter Zufluchtsort entrissen. Einige Spötter mögen sagen, der Zauberberg habe diese Rolle zuletzt nur noch symbolisch erfüllt. Doch das verkennt seine Bedeutung für den deutschen (und auch internationalen) Liberalismus. Sein Wegfall hinterlässt gerade jetzt, wo man ihn am dringendsten bräuchte, eine klaffende Lücke. Und wenn diese Lücke nicht gefüllt wird, verliert der Liberalismus die Räume, in denen künftige Generationen geistig heranwachsen könnten und überlässt sie einem immer weiter desillusionierten akademischen Wissenschaftsbetrieb.
Fünftens: Der Liberalismus braucht wieder eine Utopie. Gerade in Deutschland hat sich der Gegenwartsliberalismus zu einer befremdlichen Form technokratischen Pragmatismus verengt. Als wäre das ein Zeichen von Reife. In Wahrheit ist es ein Symptom seiner erschöpften Vorstellungskraft. Will der Liberalismus überleben muss er wieder eine Erzählung der Zukunft bieten – und zwar seiner eigenen. Dafür muss er neu lernen zu träumen und moralische Fantasie entwickeln, um den Freiheitsbegriff wieder normativ aufzuladen. Doch Inspiration allein genügt nicht. Es braucht auch eine Methodik der Kreativität: Orte, Formate und Routinen, die das Neue überhaupt möglich machen. Weniger Panels und mehr Werkstatt. All das wurde in den letzten Jahren klein gehalten und verschmäht. Aber nur wenn die liberale Idee wieder in den Köpfen der Menschen Gestalt annimmt, kann sie auch von ihren Verfechtern mit Überzeugung artikuliert werden.
Wer die Lehren von Paris und Mont Pèlerin ernst nimmt, weiß, worum es geht: Um einen Geist intellektueller, struktureller und spiritueller Erneuerung. Nicht um weitere Veranstaltungen. Dieser Event- und Salonliberalismus hat ausgedient. Zu viele Abende über die „Zukunft des Liberalismus“ mit zu wenig Wirkung. Deutschland braucht gerade jetzt ein visionäres, vordenkendes, kompaktes, wiederkehrendes und ergebnisorientiertes Forum, das den Liberalismus endlich wieder als Arbeitsprogramm und nicht als Traditionspflege begreift. Für all das braucht es keine Festreden. Dafür braucht es neue Intellektuelle mit neuem Mut.
Das ist der Geist von Mont Pèlerin. Und genau diesen gilt es heute wieder zu beschwören.
Sven Gerst ist Mitgründer von ævum. Er hat einen interdisziplinären Hintergrund in Philosophie, Politischer Ökonomie und Wirtschaftswissenschaften und hat am King’s College London, der London School of Economics sowie der Universität Mannheim studiert. Sven schreibt einen wöchentlichen Newsletter und ist einer der Hosts von Open Axis.