Wieder Zeit für einen neuen Liberalismus?

Die Welt ist am Ende des Jahres 2025 nicht mehr diejenige, die sie vor vier, sechs oder auch zehn Jahren war. Die neue Lage der Dinge fordert auch den Liberalismus als politische Idee heraus. Dazu kommt erschwerend: Angesichts der politischen Siege der Neuen Rechten sieht er sich regelrecht in die Ecke gedrängt. Die Diagnose des Problems ist relativ einfach; ungleich schwieriger sieht es bei der Therapie aus. Zunehmend wird klar, dass das politische Koordinatensystem der letzten Jahrzehnte verschwunden ist.

Marius Strubenhoff

26.11.2025

Zuverlässig konnte man sich in der Vergangenheit in ein Links-Rechts-Schema einordnen, je nachdem, wieviel wirtschaftliche Freiheit oder Gleichheit man für wünschenswert hielt. Wenn man sich auch noch auf der Skala bürgerliche Freiheit versus Sicherheit einordnen konnte, war die eigene politische Position ziemlich punktgenau zu bestimmen.

Seit einiger Zeit funktioniert dieses Koordinatensystem anscheinend nicht mehr: In der politischen Arena tobt ein Kampf über Fragen, die mittlerweile als „Kulturkampf“ bezeichnet werden. Wo steht man in dieser Auseinandersetzung als Liberaler? Man muss nicht einmal einen Blick in den parteipolitisch organisierten Liberalismus in Deutschland wagen, um zu merken, dass eine klare Antwort hier schwerfällt. Zumindest gehen die Meinungen zu dieser Frage gehörig auseinander. Was sich verschoben hat, ist nicht nur die Grundlage für kurzweilige Zeitvertreibe im Internet: Die Fragen, die die politische Landschaft definieren, scheinen sich geändert zu haben.

Die Empfehlungen, wie denn nun mit dieser neuen Lage umzugehen sei, gehen auseinander, wie der liberale Philosoph Sven Gerst jüngst skizzierte. Da gibt es unter anderem den Abundance Liberalism, der sich weigert, im Kulturkampf Partei zu ergreifen und für beide Seiten dieser Debatte wenig übrig hat. Die Vertreter dieser Denkschule appellieren daran, stattdessen die wirklich wichtigen politischen Fragen anzugehen: Wie geht es der Wirtschaft? Gibt es genügend Jobs? Wie sieht es in unseren Krankenhäusern und Schulen aus? Wie erhalten wir die Grundlage unserer Existenz, sowohl klima- als auch außenpolitisch? Gerst erwähnt es nicht, aber politisch wäre in Deutschland aktuell wohl Konstantin Kuhle der prominenteste Vertreter dieser Position. 

Oder ist der Kulturkampf so zentral geworden, dass niemand Politik machen kann, ohne sich auf der durch ihn verschobenen Skala zu verorten? Kann man sich heute keine Neutralität im Kulturkampf leisten? Das wäre die Position, die Sven Gerst Dark Liberalism nennt. Ein konfrontativer Liberalismus, der gegen die „Woken” um die kulturelle Hegemonie kämpft. Laut Gerst sind der argentinische Präsident Javier Milei oder auch Welt-Herausgeber Ulf Poschardt Beispiele für diese Position. 

Die Diagnose vieler Beobachter lautet also: Die zentrale politische Frage unserer Zeit habe sich verschoben. Ähnlich sieht es auch der britische Historiker Steve Davies in seinem bald erscheinenden Buch The Great Realignment.

Aber ist diese Entwicklung wirklich so neu, wie es scheint? Auf einen zweiten Blick erinnert sie an die Diagnose eines liberalen Vordenkers des 20. Jahrhunderts: Ralf Dahrendorf. Denn mit erstaunlich ähnlichen Worten analysierte er im Herbst 1974 die politische Lage, als er nach seinem Ausscheiden aus der Kommission der Europäischen Gemeinschaft (EG) die berühmten BBC Reith Lectures hielt, die kurz darauf als The New Liberty erschienen.

Ein paar Jahre vorher hatte die Studentenbewegung Deutschland und, im weiteren Sinne, den Westen in Aufruhr versetzt. Eine Neue Linke machte sich auf, nicht mehr nur in erster Linie politische Neuerungen in wirtschaftlichen Themen einzufordern. Ebenso prominent waren kulturelle beziehungsweise ideelle Fragen: intellektuelle Stagnation und politische Einseitigkeit in den Universitäten (damals wie heute ein Thema, nur mit anders gelagerter Front und Dominanz), mangelnde Aufarbeitung der NS-Geschichte und die Möglichkeit zur Selbstentfaltung in einer als muffig wahrgenommenen Bundesrepublik. Wenn es um die Wirtschaft ging, hieß es zunehmend, dass Wachstum eigentlich nicht so wichtig sei. 

Doch für Dahrendorf waren die jungen Leute an den Unis nur ein Teil eines größeren politischen Trends, den er auch an dem Entstehen neuer Bewegungen und Parteien („Protestparteien wie Demokraten 66 in Holland“) festmachte. Umweltschutz, Selbstverwirklichung, die Frage nach dem Wie statt dem Wieviel: Die alte politische Spaltung zwischen „Haves“ und „Havenots“ war dabei, von einem neuen Konflikt ersetzt zu werden. 

Diese Veränderung war für Dahrendorf sehr bedeutsam, denn sein Liberalismus bestand aus zwei Aspekten: der Würde und Freiheit des Einzelnen und der Regulierung gesellschaftlicher Konflikte, deren friedliches Ausleben nur in einer demokratischen Gesellschaft möglich sei. Nur: Wie trägt man kulturelle Konflikte aus? In wirtschaftlichen Konflikten sind Kompromisse möglich. Für den Konflikt zwischen der Studentenbewegung und ihren Gegnern oder für den heutigen Kulturkampf gilt das kaum.

Nach 1968 ließ die intellektuelle Gegenbewegung nicht lange auf sich warten. An Universitäten formierten sich Gruppen wie der Bund Freiheit Wissenschaft, in den Feuilletons der Republik schlug der Studentenbewegung Skepsis und Ablehnung entgegen. Die Auseinandersetzungen dieser Zeit hatten dabei eine so nachhaltige Wirkung auf die ideengeschichtliche Entwicklung der Bundesrepublik, dass manchmal in Vergessenheit gerät, wie groß der intellektuelle Unterschied zwischen den 1960er und 1970er Jahren (und zwar am wenigsten auf der Linken) war. Auch liberale und konservative Historiker und Politikwissenschaftler interessierten sich bis dahin brennend für Gesellschaft: Sozialgeschichte lag im Trend.

Erst nach den Querelen der späten 1960er Jahre wurde Soziologie zu einem Schmuddelfach, das Konservative und auch viele Liberale zunehmend als links ablehnten. Helmut Schelsky, einer der führenden Gründungsväter der Nachkriegssoziologie, bezeichnete sich in seinen 1981 erschienenen Erinnerungen sogar dezidiert als „Anti-Soziologe“. Und noch eine Veränderung brachte die Studentenbewegung mit sich: Die liberalkonservative intellektuelle Antwort führte ihre Protagonisten unter dem Eindruck der Ereignisse zur zunehmenden Verankerung der Überzeugung, dass Ideen und Kultur die Faktoren sind, die Politik prägen. Karl Dietrich Bracher, Autor des sozial- und strukturgeschichtlich geprägten Standardwerks Die Auflösung der Weimarer Republik (1955), war beim Schreiben des Vorworts der englischen Übersetzung von Zeit der Ideologien im November 1983 mittlerweile einer ganz anderen Auffassung. Bracher interessierte sich nun zuallererst für Ideen, weil er sie für außerordentlich wirkmächtig hielt. Dies konstatierte der Bonner Politikwissenschaftler explizit mit Hinweis auf die grundlegenden Wandlungen gesellschaftlicher und politischer Werte im Laufe der 1970er Jahre, in denen das Buchprojekt selbst entstanden war (und das sich doch in erster Linie mit früheren Zeiten beschäftigte und so die Gegenwart auch ein bisschen in die Vergangenheit projizierte).

Dahrendorf wollte bei alledem nicht mitmachen. Die Konservativen, die von der Studentenbewegung in Aufruhr versetzt worden waren, konnte er im Zweifel noch weniger ernst nehmen als die Protagonisten von 1967 und 68. Doch seine Diagnose, dass sich das politische Koordinatensystem und die wirtschaftliche Realität verschoben hatten und der Liberalismus daher neu gedacht werden musste, stand fest. Im Gegensatz zu den Kulturkämpfern hatte er sich zunehmend aus der Uni-Landschaft verabschiedet und war in die Politik gegangen. Die Ereignisse, die ihn in diesen Jahren prägten, waren politische Erdbeben wie die Entscheidung von US-Präsident Richard Nixon im August 1971, den US-Dollar von der Golddeckung zu entkoppeln und zusätzliche Einfuhrzölle in Höhe von 10 Prozent zu erheben.

Als EG-Handelskommissar musste Dahrendorf die Scherben aufsammeln, die in Europa durch die entstehenden Wechselkursschwankungen und die höheren Handelsschranken entstanden waren. Es überrascht daher nicht, dass er wirtschaftlicher Macht (sei es in Handelsverhandlungen oder in sozialen Konflikten) zukünftig mehr Aufmerksamkeit schenkte als diejenigen seiner Kollegen, die an ihren Unis geblieben waren. Der liberale Politiker und Soziologe sah so, dass der politische Diskurs sich einerseits zu anderen Themen verschoben hatte, gleichzeitig jedoch die politische Realität eine komplexere blieb.

Doch Vorsicht: Dahrendorf blieb nicht bei dieser Analyse. Ende der 1970er änderte er seine Diagnose wieder. Nicht zuletzt der Wahlsieg von Margaret Thatcher im Mai 1979, der auf den sogenannten „Winter of Discontent“ folgte, in dem die britischen Gewerkschaften das gesamte Land lahmgelegt hatten, drängte dem seit seinem Weggang aus Brüssel als Direktor der London School of Economics and Political Science wirkenden Liberalen den Schluss auf, dass es mit dem politischen Themenwechsel weg von wirtschaftlichen Fragen doch nicht so weit her war. It’s the Economy stupid – irgendwie ging es doch wieder um Wirtschaftswachstum und einen ökonomischen Konflikt. Für Dahrendorf war das durchaus tragisch: Er brach ein Buchprojekt namens The Contradictions of Modernity (später Modernity in Eclipse) ab, dessen zentrale These, nach viel Zeit und Energie, im Lichte der neuen politischen Entwicklungen weggebrochen war. In The Modern Social Conflict hieß es dann ein paar Jahre später jedoch, dass das Buchprojekt glücklicherweise nie zu einer Veröffentlichung gekommen war.

Für die Welt heute zeigt das: Weder die Verschiebung politischer Debatten hin zu Kulturkämpfen noch die intellektuellen Versuche, sich auf diese Veränderungen irgendwie einen Reim zu machen, sind vollkommen neu. Und mehr noch: Die Tatsache, dass der „Kulturkampf“ (um ein hemmungslos anachronistisches Wort für diese Zeit zu benutzen) zwischen 68ern und den Neuen Konservativen der 1970er Jahre nach einiger Zeit auch wieder durch neue Debatten ergänzt und auch überholt wurde, zeigt, dass wir der aktuellen Debatte auch nicht hilflos auf eh und je ausgeliefert sein müssen. Der Kulturkampf kann auch wieder durch anderes ersetzt werden: Auch darauf kann man entweder hinarbeiten oder es versuchen zu verhindern, je nachdem, in welche Richtung man politisch gehen möchte (um Missverständnisse zu vermeiden: Der Autor dieser Zeilen hält die erste Option für attraktiver). 

Das heißt nicht, dass der aktuell existierende Impetus, den Liberalismus neu zu denken, fehlgeleitet ist. Ganz im Gegenteil erscheint es, dass wir so aus einer intellektuellen Sackgasse herauskommen können, die insbesondere im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte entstanden ist. Die Personen, die in dieser Zeit im liberalen Umfeld gerne zitiert wurden, waren im Zweifel stets Denker wie Karl Popper, Friedrich August von Hayek oder Isaiah Berlin. Auch wenn sie alle etwas anders orientiert waren, teilten sie doch eine Auffassung, die für ihr Denken jeweils zentral war: Geschichte wird von Ideen gemacht. Eine Überzeugung, die für alle drei eine bewusste Distanzierung von marxistischen Ideen war.

Dahrendorf sah das anders. Der Sohn eines sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten schrieb die erste seiner zwei Doktorarbeiten über Karl Marx. In den späten 1950ern wandte er sich von der Sozialdemokratie dem Liberalismus zu; ein gemeinsam mit Fritz Stern und Milton Friedman verbrachtes Forschungsjahr in Stanford am Center for the Advanced Study in the Behavioral Sciences war ein Schlüsselerlebnis. Doch Dahrendorf verabschiedete sich nie ganz von der Überzeugung, dass Wirtschaft und Gesellschaft auf eine maßgebliche Art und Weise die Politik prägen, wie es Hayek, Popper oder Berlin nie in den Sinn gekommen war. 

Damit war Dahrendorf keinesfalls ein Außenseiter. Vor den prägenden Ereignissen der späten 1960er und 1970er Jahre war sein soziologischer Liberalismus Teil des Mainstreams, wie er auch von anderen liberalen Soziologen wie Raymond Aron vertreten wurde. Und nicht ohne Zufall war die Soziologie seit dem frühen 20. Jahrhundert ja eine Disziplin, die maßgeblich von Liberalen wie Max Weber geprägt worden war.

Dass wir selbst in einer Zeit leben, in der gesellschaftliche Veränderungen einen erheblichen Einfluss auf politische Entwicklungen haben, ist offensichtlich. Doch wo sind heute die liberalen Soziologen und soziologischen Liberalen? Mit ihrer Abwesenheit fehlt ein Blick, den man durch die Lektüre der anderen genannten Liberalen nicht gewinnt. Denn wer der Auffassung ist, dass allein Ideen die Politik prägen und wenig Zeit auf die Frage verwendet, wie sich Veränderungen in der Lagerung gesellschaftlicher Interessen und Konflikte politisch auswirken, schaut nur auf eine Seite der politischen Medaille. Und er tut dies interessanterweise auf eine Art und Weise, wie es die Woken und die Neuen Rechten auch tun: mit einem absoluten Fokus auf Kultur und Ideen. Dabei bleibt zwangsläufig intellektuell und politisch etwas auf der Strecke.

Dass der Liberalismus eine politische Strömung ist, die sich immer im Streit mit ihren intellektuellen Widersachern und dem Kontext ihrer Zeit weiterentwickelt hat, ist eine der wenigen Konstanten der Geschichte des Liberalismus. Eines der womöglich besten Zeugnisse dafür bleibt Richard Bellamys mittlerweile zum Klassiker gewordenes Liberalism and Modern Society. Bellamys analysiert verschiedene nationale Traditionen des Liberalismus, von der britischen Spielart zur französischen, deutschen und italienischen. John Stuart Mill, Émile Durkheim, Max Weber, Vilfredo Pareto: Sie alle haben in einem ganz bestimmten politischen Kontext gelebt, der sie zu anderen Fragestellungen verleitete. 

Für Bellamy war es kein Zufall, dass im Blick der britischen Liberalen die soziologische Komponente am wenigsten präsent war, die doch auf dem Kontinent eine so große Rolle spielte. Die sozioökonomischen Veränderungen der Industrialisierung vollzogen sich in Großbritannien über einen vergleichsweise längeren Zeitraum, wodurch die gesellschaftlichen Veränderungen und Verwerfungen langsamer und damit abgemildert auftraten. In Frankreich und gerade in Deutschland und Italien änderten sich Wirtschaft und Gesellschaft viel rasanter. Dass die Liberalen dieser Länder sich viel mehr für die hier offensichtlicheren gesellschaftlichen Umbrüche interessierten, hatte einen guten Grund. In einer Zeit, in der sich unsere Gesellschaften wieder in einem teilweise schwindelerregenden Tempo verändern, scheint es angebracht, dieser Tradition des Liberalismus wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Marius Strubenhoff ist Experte für Außen- und Sicherheitspolitik. Als solcher arbeitet er unter anderem für das Centrum für Europäische Politik, wo er über die französische EU-Politik und EU-Außenpolitik berichtet. Er verfügt über einen Doktortitel in Geschichtswissenschaft von der Universität Cambridge und einen Master-Abschluss von der London School of Economics and Political Science.