Great realignment
Populisten werden gewinnen, wenn wir bloß den Status Quo verteidigen
ævum: Was ist das – Great Realignment?
Steve Davies: Realignment, eine neue Ausrichtung des politischen Spielfelds – so nenne ich den Prozess, der stattfindet, wenn sich die Frage verändert, anhand derer sich die Öffentlichkeit in zwei Lager spaltet. Das führt zu einem Mischen der Karten in der Politik, wenn alte Genossen neue Feinde und alte Feinde neue Verbündete werden. Eine solche grundlegende politische Neuordnung findet im Augenblick fast überall auf der Welt statt. In dieser Größenordnung findet das ungefähr einmal im Jahrhundert statt: Das letzte Mal gab es das zwischen 1890 und 1920, davor in der Zeit von 1790 bis 1820.
Aufgrund der strukturellen Spaltungen in der Gesellschaft gibt es zu jedem Zeitpunkt politische Themen, über die sich die Menschen uneinig sind. Da gibt es in der Regel 30 oder 40 Fragen, die Menschen für politisch halten und zu denen sie unterschiedliche Meinungen haben. Von all diesen vielen verschiedenen Fragen gibt es in der Regel nur eine, die besonders hervorsticht. Es gibt ein Thema, das für viele Menschen wirklich sehr wichtig ist. Deshalb neigen die Menschen dazu, ihre politische Identität abhängig davon zu definieren, was ihre Position zu diesem Thema ist.
In den letzten Jahrzehnten war die Frage, anhand derer wir uns in links und rechts sortiert haben, eine wirtschaftliche: die Frage, ob man denkt, dass der Staat eine große Rolle in der Wirtschaft spielen sollte. So hatte man zwei rivalisierende ökonomische und soziale Systeme – also nicht nur eine Frage der richtigen Wirtschaftspolitik, sondern eine existenzielle Wahl zwischen zwei Arten von Gesellschaftsordnungen. Doch diese Frage, die unsere politische Ordnung für fast hundert Jahre strukturiert hat, – Kapitalismus versus Sozialismus – ist nicht mehr die zentrale Trennlinie.
Stattdessen ist links oder rechts heute abhängig davon, auf welcher Seite der neuen Trennlinie du stehst. Das macht sich an Themen fest wie Einwanderung und nationale Identität und daran, was man von ökonomischer Globalisierung und der globalen Ordnung hält. Hast du ein starkes Verständnis nationaler Identität – ist der Nationalstaat für dich primär? – oder bist du für Individualismus, unterstützt eine globalisierte, kosmopolitische Wirtschaft und einen dazu passenden Lebensweg? Die Frage der wirtschaftlichen Intervention, dafür gibt es gute Belege, ist immer noch da, nun aber zweitrangig.
Interview mit Steve Davies
19.11.2025
Wer sich also beschwert, dass Prinzipien für einen Kompromiss geopfert werden, der missversteht den Sinn der Politik
ævum: Wie bist du zu dieser Analyse gekommen? Wie kamst du dazu, deinen ersten Artikel 2018 in Cato Unbound über Great Realignment zu schreiben?
Steve Davies: Entstanden ist die Idee schon zehn Jahre vor dem Artikel. Da habe ich einerseits das Buch The Future and Its Enemies von Virginia Postrel, einer guten Freundin, gelesen. Ihr war aufgefallen, dass die Antiglobalisierungs-Bewegung der frühen 2000er Jahre – die Proteste in Seattle und anderswo –Menschen aus dem radikal-linken Spektrum zusammenbrachte mit Menschen wie Pat Buchanan. Buchanan ist ja das, was man heute als nativist right bezeichnen würde. Das Bemerkenswerte daran war, dass beide Gruppen trotz ihrer sehr unterschiedlichen ideologischen Ausgangspunkte tatsächlich viele Argumente, Analysen und einen weitgehend ähnlichen metapolitischen Ansatz teilten, den Postrel Stasism nennt: eine Ablehnung von Veränderung und Innovation. Nach den Protesten verschwand die rechte Variante dieser Politik erstmal im Untergrund, tauchte dann später aber als populistische Neue Rechte wieder auf. Das war mein erster Ausgangspunkt.
Anderseits habe ich für eine Seminarreihe beim Institute for Humane Studies darüber nachgedacht, ob die konservativ-libertäre Allianz in den Vereinigten Staaten, die sogenannte fusionist coalition, auseinanderbricht. Mein Eindruck war, dass sie unter enormem Druck stand. Schon in den 2000er Jahren, noch vor der Finanzkrise, schien mir die Beziehung zwischen Konservativen und Libertären einer wirklich unglücklichen Ehen zu ähneln, der man ansieht, dass sie in einer bitteren Scheidung enden wird.
Als ich dann 2018 den Artikel für Cato Unbound schrieb, versuchte ich, aus diesen ersten Erkenntnissen und Eindrücken eine tatsächliche Theorie, eine Art historische Darstellung der Veränderungen der politischen Struktur, zu entwickeln. Mein Analyse-Ansatz ist da materialistisch. Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass Ideen zwar enorm wichtig sind – als Landkarte, die uns die Landschaft, in der wir uns politisch befinden, verstehen lässt. Aber Ideen beeinflussen Politik nicht in dem Maße, wie viele Menschen glauben. Letztendlich bestimmen materielle Erfahrungen die Politik – da bin ich von Fernand Braudel inspiriert. Das ist auch eine strukturalistische Erklärung der Politik; für mich ist Politik ein Prozess, mit dem Gesellschaften Interessenkonflikte ohne Gewalt lösen. Wer sich also beschwert, dass Prinzipien für einen Kompromiss geopfert werden, der missversteht den Sinn der Politik, denn es geht darum, einen Modus Vivendi zu finden.
ævum: Kannst du noch mehr dazu sagen, wie politische Zuordnung in der Vergangenheit funktioniert hat?
Steve Davies: In der modernen Politik haben sich die identitätsstiftenden Konfliktlinien mehrfach verschoben. Nach der Französischen Revolution dominierte zunächst die Frage, ob man politische Reformen unterstützte oder das Ancien Régime bewahren wollte, da standen sich traditionelle Rechte wie Metternich und Reformbefürworter – Liberale, Radikale und reformorientierte Konservative wie Bismarck – gegenüber.
Im 20. Jahrhundert lag der Hauptkonflikt auf der Achse Kapitalismus versus Sozialismus. Neben der primären Frage gibt es auch sekundäre Themen – meist eines, manchmal zwei – die ihrerseits die beiden großen Lager spalten. So gab es seit den 1960er Jahren eine zweite Achse zwischen gesellschaftlichem Liberalismus und Konservatismus. Daraus ergibt sich das bekannte politische Feld mit vier Quadranten: links-liberal (interventionistisch und gesellschaftlich liberal), marktwirtschaftlich-konservativ (wirtschaftlich liberal und sozial konservativ), konsequent liberal (wirtschaftlich und gesellschaftlich freiheitlich) sowie autoritär (wirtschaftlich interventionistisch, sozial konservativ). Die dominierenden Quadranten waren lange der links-liberale, in Deutschland die SPD, und der marktwirtschaftlich-konservative, CDU/CSU.
In den 1980er Jahren dominierten marktwirtschaftliche Konservative, weil sie sowohl wirtschaftsliberale als auch wirtschaftlich linke, aber sozial konservative Wähler vereinen konnten. Die Liberalen nahmen den sozialen Konservatismus von Politikern wie Kohl in Kauf, weil sie niedrigere Steuern wollten. Und konservative, überwiegend aus der Arbeiterklasse stammenden Wähler, die wirtschaftlich links von der Mitte standen, lehnten den sozialen Liberalismus der 68er ab und stimmten deshalb für Konservative.
Um diese Oberhand der wirtschaftlich liberalen Konservativen zu überwinden, rückten Anfang der 1990er Jahre Sozialdemokraten wie Schröder, Blair und Clinton wirtschaftlich in die Mitte und gewannen so auch liberale Stimmen. Als Reaktion darauf bewegten sich Parteien wie CDU/CSU oder die britischen Tories nach und nach, etwa unter Merkel und Cameron, sozial in Richtung Liberalismus, was zum Beispiel zur Einführung der Homo-Ehe führte.
So ergab sich ein Konsens für einen moderat freien Markt und eine moderate soziale Liberalisierung. Die großen Parteien sammelten sich in einer Mitte, die wirtschaftliche Deregulierung mit einer offenen Haltung gegenüber individuellen Lebensentwürfen verbindet. Dieser, für uns Liberale akzeptable, Konsens war für unsere Politik bis vor kurzem prägend.
Frankreich ist ein Land, in dem die von mir beschriebene Neuausrichtung mittlerweile vollzogen ist. Man kann die vier Quadranten klar identifizieren
ævum: Jetzt, nach dem Great Realignment, wie ordnen wir uns da politisch ein?
Steve Davies: Die Frage wirtschaftliche Interventionen: ja oder nein? ist nach wie vor wichtig, aber zweitrangig. Die neue primäre Trennlinie ist Nationalismus versus Kosmopolitismus. Auf der nationalistischen Seite, der neuen rechten Seite unseres politischen Koordinatensystems, finden wir zwei Gruppen: Einerseits nationale Kollektivisten, die starken Nationalismus mit interventionistischer Wirtschaftspolitik verbinden, etwa die AfD, Marine Le Pen, Donald Trump oder J.D. Vance. Andererseits gibt es die nationalen Liberalen, die einen sehr starken Nationalismus mit freien Märkten verbinden. Beispiele hierfür wären La Reconquête in Frankreich, die Confédération-Partei in Polen, oder die Reform-Party in UK, zumindest deren Führung. Eine solche Partei gibt es in Deutschland noch nicht, aber sie könnte entstehen.
Auf der kosmopolitischen Seite, der neuen linken Seite, gibt es einerseits moderate kosmopolitische Liberale, für die jemand wie Emmanuel Macron ein gutes Beispiel wäre. Auf der anderen Seite gibt es radikale Kosmopoliten, also Menschen, die starken Kosmopolitismus mit grünen aktivistischen und sozialistischen Ideen verbinden. Jemand wie Jean-Luc Mélenchon in Frankreich wäre ein typischer Vertreter dieser Art von Politik. Jeremy Corbyn im Vereinigten Königreich gehört meiner Meinung nach ebenfalls in diesen Quadranten. Und das ist der Quadrant, in dem sich beispielsweise Die Linke in Deutschland jetzt befindet, seit sie ihre autoritären Wähler aus der Arbeiterklasse in der letzten Wahl verloren hat.
Das sind also die vier Quadranten, die die neue politische Welt beschreiben. Frankreich ist ein Land, in dem die von mir beschriebene Neuausrichtung mittlerweile vollzogen ist. Man kann die vier Quadranten klar identifizieren: Mélenchon für die radikale Linke, Macron für die liberalen Kosmopoliten, Zemmour für die sehr radikalen Nationalisten, die Verfechter des freien Marktes sind, und Le Pen und andere für die nationalen Kollektivisten.
ævum: Nochmal zur Geschichte der letzten Jahrzehnte: Wie erklärst du den Aufstieg der Rechtspopulisten?
Steve Davies: Für die konsequent autoritären Wähler, die Quadranten links unten, gab es im Nachkriegsdeutschland keine Partei, die sie vertreten hätte. Dazu kommt, dass aus Meinungsumfragen und anderen Quellen ziemlich klar hervorgeht, dass der Großteil der konsequent autoritären Wähler in Deutschland heute in der ehemaligen DDR zu finden ist. Im Nachkriegsdeutschland war dies also noch ein recht kleiner Quadrant. Das hat sich mit der Wiedervereinigung geändert.
Dieser kollektivistisch-autoritäre Quadrant war ziemlich verärgert, weil seine Ansichten politisch nicht berücksichtigt wurden. Hinzu kam, dass die beiden alten großen Seiten des Parteienspektrums sich wirtschaftspolitisch auf eine Art der verwalteten Marktwirtschaft einigten – die man üblicherweise als Neoliberalismus bezeichnet. Diesem Konsens zufolge sind Märkte keine spontane Ordnung, sondern eine konstruierte Ordnung. Deshalb braucht es nicht laisser-faire, sondern einen sehr aktiven Staat, um Märkte zu schaffen, zu betreiben, zu unterstützen und zu regulieren. Über die Jahre bildete sich also ein Konsens technokratischer Politik heraus, der jedoch mittlerweile für viele seine Legitimität verloren hat.
Zusätzlich ist ein neues Thema aufgetaucht: die Frage nach Identität. Teilweise ist das eine Reaktion auf die Bestrebungen hin zu einer technokratischen Managementpolitik und einer supranationalen Governance durch undemokratische Institutionen, Regeln und Konventionen. Auf der Ebene der breiten Gesellschaft gibt es Widerstand gegen beide Phänomene, der sich im Aufstieg antiliberaler Politik manifestiert. Die Liste der Beispiele ist lang: Die Politik der AfD, der Schwedendemokraten, der Freiheitspartei in den Niederlanden, von Marine Le Pen, der Vox-Partei in Spanien, Chega in Portugal, Giorgio Meloni und der Fratelli d'Italia in Italien. Und natürlich die Politik von Donald Trump.
Neben Migration und nationaler Identität gibt es ein weiteres Thema, das mit Identität zu tun hat: die Frage der Geschlechtsidentität. Verbindend für all diese umkämpften Themen ist die Frage, ob die eigene Identität fest vorgegeben ist oder nicht. Ist sie also eine Funktion von Dingen, die man nicht selbst wählen kann – wo man geboren wird, welche Gene man hat, wer die eigenen Eltern sind, wo man aufwächst, etc. – oder ist sie eine radikale persönliche Entscheidung? In der Debatte der Geschlechtsidentität sieht man alle möglichen Positionen zwischen diesen Polen. Die Position etwa, dass es keinerlei biologischen Grenzen für die eigene Identität gibt, sondern nur von der subjektiven Einschätzung abhängt, das ist quasi die extreme Version der zugrunde liegenden Idee, dass die Identität eines Menschen das Ergebnis seiner freien Entscheidungen sein sollte und nicht das Ergebnis struktureller Kräfte, über die man keine Kontrolle hat. Das ist umstritten und das ist es, was diese Frage der Sexualmoral und der sexuellen Identität mit Argumenten über nationale Identität, kulturelle Identität oder Ähnlichem verbindet.
Da ist es falsch, die neue Art rechter Politik antidemokratisch zu nennen. Sie sind, wenn überhaupt, radikale Mehrheitsdemokraten.
ævum: Welche Faktoren gibt es noch?
Steve Davies: Nun, ein wichtiges Thema ist auf jeden Fall der Freihandel und die globale Ordnung. Was wir weltweit beobachten, ist eine deutliche Abkehr von wirtschaftlicher Globalisierung. Diese neuen Parteien, die sich zunächst um Themen wie Einwanderung und nationale Identität bilden, verbinden dies anfangs oft mit einer Begeisterung für Marktwirtschaft. So etwa die FPÖ in Österreich oder bis zu einem gewissen Grad auch Vox in Spanien. Und so war das auch mit Nigel Farage und Reform in Großbritannien. Was alle diese Parteien jedoch feststellen, ist, dass sie, um Wähler zu gewinnen, wirtschaftspolitisch nach links rücken müssen. Und damit eben auch wirtschaftliche Integration, Freihandel, freien Kapitalverkehr und Ähnliches ablehnen müssen.
Am deutlichsten wird dies derzeit in den Vereinigten Staaten aufgrund des Status dieses Landes als Großmacht. Die neue Rechte dort, verkörpert durch Donald Trump und die MAGA-Bewegung, ist im Grunde der Meinung, dass die Vereinigten Staaten die Zusammenarbeit mit dem Rest der Welt über multilaterale Institutionen wie die NATO, geschweige denn die UNO, einstellen und stattdessen eine Politik des Unilateralismus verfolgen sollten – eben „America first“. Ähnliche Bewegungen gibt es auch in Europa. Hier ist die Situation komplizierter, weil es noch offen ist, ob die Menschen eher einseitige Maßnahmen der einzelnen EU-Mitgliedstaaten wünschen oder der Meinung sind, dass die EU zu einem effektiveren einheitlichen Akteur werden muss. Das ist derzeit noch offen. Schaut man sich aber den Ukraine-Krieg an, sehen weder die AfD noch das Bündnis Sarah Wagenknecht eine Bündnispolitik, die versucht, Völkerrecht durchzusetzen und die Ukraine gegen Putin zu unterstützen, im nationalen Interesse Deutschlands.
ævum: Was ist mit Demokratie und liberalen Verfassungen?
Steve Davies: Was die neue Rechte ebenso bewegt, ist die Frage, inwieweit demokratische Mehrheiten überstimmt werden oder Entscheidungen von Gerichten unterliegen sollten. Da ist es falsch, die neue Art rechter Politik antidemokratisch zu nennen. Sie sind, wenn überhaupt, radikale Mehrheitsdemokraten.
Was die neuen Rechten ablehnen, ist die liberale Demokratie, die ihrer Meinung nach dem Volkswillen Beschränkungen auferlegt. Ihrer Ansicht nach sollten die Menschen das bekommen, was sie verlangen. Das ist es, was man bei Orbán oder der PIS in Polen sieht: die Vorstellung, dass der in Wahlen zum Ausdruck gebrachte Volkswille umgesetzt werden soll und nicht durch Anwälte, Gesetze oder die Verfassung gebremst werden darf.
Da stellt sich auch die Frage, wer das letzte Wort haben soll: Ist es das Gesetz, von Richtern ausgelegt, oder ist es die Meinung oder der Wille des Volkes, wie er durch Wahlmehrheiten zum Ausdruck kommt? Die liberale Antwort ist, wie John Stuart Mill in „On Liberty“ sagt: Wenn die gesamte Menschheit einer Meinung wäre, mit Ausnahme einer einzigen Person, hätte die Menschheit nicht mehr das Recht, diese Person zu zwingen, sich ihrer Meinung anzuschließen, als diese Person das Recht hätte, den Rest der Menschheit zu zwingen.
ævum: Wie kam es zum Great Realignment?
Die entscheidende Veränderung seit den späten 1980er Jahren ist, dass die Weltwirtschaft nicht länger aus klar abgrenzbaren Nationalökonomien besteht, sondern aus einem Netzwerk global verknüpfter Metropolregionen. An der Spitze stehen Städte wie Paris, London, Shanghai, Hongkong, New York, Los Angeles und Dubai, die die weniger vernetzten Städte im Netzwerk koordinieren. Dazwischen liegen ländliche Räume und ehemalige Industriegebiete, die kaum von der Dynamik der globalisierten Wirtschaft profitieren.
Diese Entwicklung erzeugt zwei völlig unterschiedliche Lebenswelten. Wer in einer global vernetzten Stadt wie München, Berlin oder London lebt und in Sektoren wie Finanzen, IT, Medien oder Kultur arbeitet, bewegt sich in einer kosmopolitischen Welt, in der internationale Kooperation selbstverständlich ist. Ein Hochschulabschluss fungiert hier als Eintrittskarte in einen meritokratischen Arbeitsmarkt. Hingegen erleben Menschen in Kleinstädten oder schrumpfenden Industriezentren, etwa im Ruhrgebiet oder in Teilen Sachsens, Stagnation. Selbst staatliche Investitionen ändern wenig an der Abwanderung junger Talente und am Gefühl, vom Wachstum ausgeschlossen zu sein.
Nehmen wir an, jemand, der in Sunderland im Norden Großbritanniens geboren ist, hat seine Heimat verlassen, um zu studieren, arbeitet jetzt in London und muss einen neuen Job finden. Für sie wäre es unvorstellbar, nach Sunderland zurückzukehren. Stattdessen denkt sie vielleicht daran, in Frankfurt, New York oder Dubai zu leben und zu arbeiten.
Diese ökonomische Spaltung schlägt sich nicht nur in politischen, sondern auch in kulturellen Gegensätzen nieder. Die Menschen, die in „abgehängten“ Regionen bleiben, sind Menschen mit starkem lokalen Identitätsgefühl und einer starken Bindung an einen bestimmten Ort, die „Somewheres”, wie der britische Schriftsteller David Goodhart sie nennt. Diese empfinden die städtischen Eliten als herablassend ihnen gegenüber und entwickeln dagegen wiederum ein tiefes Resentiment, das sich in Phänomenen wie dem Brexit oder der Unterstützung populistischer Bewegungen äußert. Lieblingsmarken, Musikgeschmack und Alltagskultur unterscheiden sich deutlich zwischen urbanen Kosmopoliten und lokal Verwurzelten. Dabei gibt es eine ganze Reihe vorpolitischer Haltungen, die von den meisten kulturellen Eliten abgelehnt werden und nun in der Politik Ausdruck finden. So werden Dating und Geschlechterfragen zu politisch brisanten Themen. Eine solche vorpolitische Spaltung wird zusätzlich von den sozialen Medien verschärft, weil sie solche diffusen Stimmungen plötzlich mit 140 Zeichen ausdrückbar werden lassen.
Ich denke, es ist an der Zeit, unsere radikalen liberalen Ideen wiederzuentdecken
ævum: Was müssen Liberale aus deiner Analyse lernen?
Steve Davies: Derzeit haben wir in diesem liberalen kosmopolitischen Quadranten eine Art Zusammenkommen des linken und rechten Flügels des alten Konsenses, der sich in den 1990er Jahren herausgebildet hatte. Das sieht man an der aktuellen Regierung in Deutschland, wo unter Merz die CDU und die SPD, also die beiden Flügel des alten Konsenses, zusammenkommen. Ähnlich verhält es sich mit dem Bürgerforum in Polen unter Donald Tusk, das ebenfalls den alten Konsens vertritt. Das Problem mit dieser Art von Politik ist, dass Tusk oder die derzeitige deutsche Regierung versuchen, den etablierten Konsens aufrechtzuerhalten und, wenn überhaupt, dorthin zurückzukehren, wo wir vor der Finanzkrise waren. Und sie wollen die technokratische Management-Herangehensweise an die Politik und die Art der internationalen Governance, die sich nach dem Fall der Berliner Mauer entwickelt hat, aufrechterhalten. Ich halte das für einen großen Fehler.
Als Liberale müssen wir erkennen, dass wir den nationalen Kollektivisten und Populisten nicht zustimmen dürfen. Gleichzeitig können wir nicht einfach den Status Quo unterstützen, denn der politische Konsens, der sich nach dem Ende des Kalten Krieges herausgebildet hat, war zu weit entfernt von den Erfahrungen und Sorgen der Menschen. Er gab einer distanzierten Führungselite viel zu viel Macht und ließ spontane zivilgesellschaftliche Kräfte und Ähnliches nicht ausreichend zu. Dazu kam eine Vision von internationaler Governance, die sich als äußerst fragil erwiesen hat – die der Rückkehr zum geopolitischen Wettbewerb, die wir derzeit beobachten, mit dem wachsenden Wettbewerb zwischen den Vereinigten Staaten und China sowie anderen aufstrebenden Mächten wie Indien, nicht standhalten kann. Die EU ist derzeit ein bisschen wie das China der Qing-Dynastie im 19. Jahrhundert: von anderen Mächten an den Rand gedrängt und gedemütigt. Im Moment treffen sich Donald Trump und Wladimir Putin in Alaska, um die Ukraine in drei Teile aufzuteilen. Und Europa ist nicht einmal eingeladen.
Wir Liberalen werden also verlieren, wenn wir unsere Rolle einfach darin sehen, den technokratischen Konsens, den Status Quo, gegen die Angriffe der Populisten und der Radikalen zu verteidigen. Dann werden die Populisten gewinnen. Stattdessen müssen wir zu unseren liberalen Grundprinzipien zurückkehren und darüber nachdenken, wie wir sie weiterentwickeln und auf die Welt, in der wir heute leben, anwenden können. Viele alte radikale liberale Ideen sind im 20. Jahrhundert weitgehend in Vergessenheit geraten, weil Liberale mit den Konservativen zusammenarbeiten mussten, um dem Kommunismus Widerstand zu leisten. Ich denke, es ist an der Zeit, unsere radikalen liberalen Ideen wiederzuentdecken.
Das Interview führte Sven Gerst, editiert von Marius Drozdzewski.
Dr. Stephen Davies engagiert sich schon seit seinen ersten Studientagen in der Freiheitsbewegung. Als Historiker hat er über Wirtschaftsgeschichte genauso geschrieben wie über Kultur- und Ideengeschichte.
Sein neues Buch The Great Realignment and Why the New Right-Wing Politics is Here to Stay erscheint am 29. Januar 2026 bei Polity Press.
Es ist Teil seines Versuchs, den globalen Aufstieg einer ganz bestimmten Art von anti-liberaler Politik zu verstehen und Antworten darauf zu entwickeln.